Sonntag, 23. März 2014

Gelungene Verfilmung von H. P. Lovecrafts Kurzgeschichte "Die Farbe aus dem All" (1927)


Die Farbe (Deutschland 2010, Regie: Huan Vu)

Kritik: In den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts schlägt in einem Dorf in der Schwäbischen Alb ein Meteorit ein. In der Folge kommt es zu einer Reihe unerklärlicher Veränderungen bei Pflanzen, Tieren und Menschen. Schon die Tatsache, dass sich der Meteorit einer Untersuchung durch Wissenschaftler entzieht, sich nach einigen Tagen auflöst und nichts mehr von ihm übrig bleibt, deutet an, dass wir es hier mit etwas Unfassbarem zu tun haben. Die Familie, auf dessen Gehöft der außerirdische Körper niederging, ist besonders hart getroffen. Es kommt zu Missernten, Pflanzen zerfallen nach einer kurzen Phase des Aufblühens zu Staub, und auch vor Tieren und Menschen macht das Phänomen nicht halt. Fische, Vögel und Frösche sterben, Menschen werden von Wahnsinn befallen.

Ähnlich wie es Robert Wiene bei einem der ersten phantastischen Filme, „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920), getan hat, bedient sich auch Regisseur Huan Vu des erzählerischen Konzept der Rahmenhandlung. Ein Amerikaner aus der Stadt Arkham fährt in den 70er-Jahren in das betroffene Dorf, um Erkundigungen über seinen seit einiger Zeit verschwundenen Vater einzuholen. Dieser war 1945 als Mitglied der amerikanischen Streitkräfte dort stationiert und ist nun wieder in diese Gegend gefahren. Der Sohn trifft bei seinen Nachforschungen auf einen älteren Dorfbewohner, der von den unheimlichen Geschehnissen nach dem Meteoriteneinschlag berichtet.

Spätestens mit der Erwähnung des Ortes Arkham erkennt der Genreliebhaber den Verweis auf den Horrorschriftsteller H. P. Lovecraft (1890-1937). In vielen seiner unheimlichen Erzählungen kam dieser fiktive Ort vor. Die Werke Lovecrafts dienten, ähnlich wie die von E. A. Poe, zahlreichen Horrorfilm-Regisseuren als Inspirationsquelle und Stichwortgeber. Und auch Huan Vus „Die Farbe“ ist eine Verfilmung von Lovecrafts Erzählung „The Colour Out Of Space“ (dt.: „Die Farbe aus dem All“). Ort und Zeit wurden zwar verändert, Figurenkonstellation und Fabel jedoch wurden kaum modifiziert. „The Colour Out Of Space“ erschien 1927 und markiert den Beginn der Schaffensperiode des Autors, in der er seine großen kosmischen Horrorgeschichten verfasste. Die Erzählung beeindruckt durch die genaue, fast reportagenhafte Darstellung der unheimlichen Ereignisse, die dem Meteoriteneinschlag folgten. Meisterhaft schildert er den langsam fortschreitenden Verfall von Flora und Fauna. „Über allem lag ein Schleier von Unrast und Bedrückung; ein Hauch des Unwirklichen und Grotesken, so als sei ein wesentliches Element der Perspektive oder des Wechsels von Licht und Schatten zerstört.“ 

Diese Worte hat Lovecraft seinem Ich-Erzähler in den Mund gelegt, und es ist beeindruckend, wie es Huan Vu in seiner filmischen Adaption gelingt, die hier nur angedeutete Atmosphäre der Erzählung auf die Leinwand zu übertragen. Er setzt offenbar genau bei den Begriffen Perspektive sowie Licht und Schatten an. Mit klassischen Stilmitteln der Filmkunst gelingt es ihm, die düstere Atmosphäre der literarischen Vorlage fast eins zu eins umzusetzen. Charakteristisch für die Schwarz-Weiß-Bilder des Films sind eine Dominanz dunkler Grautöne und Kontrastarmut, was die eigenartige Stimmung nur noch verstärkt. Handwerklich wurde das wohl dadurch erreicht, dass die Szenen zwar in Farbe gedreht wurden, aber anschließend ohne weitere große Bearbeitung in Schwarz-Weiß konvertiert wurden. Der mehrfache Einsatz der subjektiven Kamera, sogar aus der Perspektive des Meteoriten, evoziert von Anfang an eine besonders bedrohliche Atmosphäre. Ahnt doch der Zuschauer schon lange vor den Protagonisten, dass es sich hier wohl um eine Art Wesen oder Existenz handelt. Wer sollte sonst aus dem Meteoriten „herausschauen“? Schräge Kamerawinkel, lange Einstellungen und Großaufnahmen alltäglicher Gegenstände, ungewöhnliche Perspektiven und der Einsatz von Weitwinkeloptiken verweisen mit Fortschreiten der Geschichte auf die aus den Fugen geratende Welt. Unterstützt wird das Ganze noch durch einen stimmigen Einsatz von Musik und bedrohlich wirkenden Geräuschen und Klängen. Trickaufnahmen von zu Staub zerfallenden Pflanzen und Körpern, übergroßer Insekten und dem Star des Film, der Farbe aus dem All, machen die Sache perfekt. Die einzigen Farbaufnahmen sind übrigens die, in denen die (pink-rosa) „Farbe aus dem All“ ihren Auftritt hat.

Der Film „Die Farbe“ ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man auch mit geringem Budget eine unheimliche Stimmung und subtilen Schauer erzeugen kann. Er sollte all den untalentierten Hollywood-Regisseuren als Vorbild dienen, die anscheinend nur noch mit Schnittgewitter, Wackelkamera und der Lautstärke des Scores zu erschrecken vermögen. Der Film endet übrigens mit einem ähnlichen Fragezeichen wie der Stummfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920). Durch die letzten Einstellungen, die konfusen Visionen des Rahmenerzählers, kann sich der Zuschauer nicht mehr ganz sicher sein, wie er das Gesehene einzuordnen hat...

Dieser Film gehört für mich zu den besten Literaturverfilmungen im Horrorgenre. Man muss die Geschichte von Lovecraft nicht unbedingt kennen, um an „Die Farbe“ gefallen zu finden. Er ist ein absolutes Must-see, und eigentlich gehört er auch in jede Filmsammlung. Wer in seinem Rezeptionsverhalten noch nicht durch Wackelkamera, Schnittgewitter und Lautstärke-Schocks beschädigt wurde, wird diesen ruhigen, bedrückenden Film genießen. Volle Punktzahl für ein Meisterwerk des (deutschen!) Genrekinos.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: von der Farbe durchleuchteter zerfallender Körper // Biene auf dem Kopf // Bäume // tote Tiere // Farbeffekte // übergroße Birnen

Bewertung: (10/10)